Glaubt man den Aussagen der Touristiker, so ist das submediterrane Klima Südtirols mit seinen milden Frühjahrstemperaturen und warmen Herbsttagen Hauptverantwortlicher für die ungeschlagene Beliebtheit der „Sonnenseite der Alpen“ als Urlaubsziel. Das Südtirol-Wetter trägt dabei mit mehr als 300 Sonnentagen im Jahr entscheidend dazu bei, dass das kleine Land südlich des Brenners in der Beliebtheitsskala zahlreicher europäischer Erholungssuchender ganz oben rangiert.
Nichtsdestotrotz ist das aktuelle Wetter in Südtirol der letzten Tage alles andere als ein milder Vorgeschmack des Frühlings, der meteorologisch am 1. März Einzug gehalten haben soll. Temperaturen bis -20 °C und Windgeschwindigkeiten um 100 km/h lassen jeden Wetter-Bericht schlecht aussehen, auch der Wetterbericht für Südtirol der nächsten Tage verspricht keine großartigen Verbesserungen und prophezeit immer noch unterdurchschnittliche Werte. Erst die Südtirol-Wetterprognose für die nächste Woche sagt den Frühling voraus.

Warum kommt es uns so vor, als wäre der Winter wieder zurückgekehrt?

Die menschlichen Sinne sind in Vergleich zu technischen Sensorensystemen schlechter geeignet, physikalische Messgrößen zuverlässig und reproduzierbar zu bestimmen. Dies mag im Alltagsleben von Vorteil sein (konstante Sinnesreize werden auf Dauer abgeschwächt, starke Reize lösen Sättigungsverhalten aus), im Falle von niedrigen Temperaturen bei starkem Wind ist die „Messanordnung Mensch“ jedenfalls eine eindeutige Fehlkonstruktion, zumindest aber kein Intelligent Design. Es ist sicher jedem bereits aufgefallen, dass die bloße Temperatur im Freien anders empfunden wird, als sie tatsächlich vorliegt. Parallel auftretende Wetterfaktoren spielen keine unbedeutende Rolle. Beschränken wir uns zunächst auf Temperaturen unter 10 °C, wo der Massenanteil der absoluten Luftfeuchtigkeit in der Umgebungsluft weniger als 1% zur Gesamtmasse beiträgt und somit eine vernachlässigbaren Einfluss auf die Wärmeleitfähigkeit und Wärmekapazität ausübt.

Der Windchill

Der englische Begriff Windchill steht für Windkühle bzw. Windfrösteln und beschreibt anschaulich das Gefühl des verstärkten Kälteeindruckes, der dann entsteht, wenn hautnahe, relativ warme Luft durch Wind konvektiv abgeführt wird und somit die Verdunstungsrate erhöht. Die für die Verdunstung notwendige Energie wird dem Körper entzogen, weshalb das Kältempfinden potenziert wird.
Erste Bemühungen, dieses qualitative Empfinden zu quantifizieren, gehen bereits auf den 2. Weltkrieg zurück, wo es amerikanisches Anliegen war, die eigenen Truppen für die Widrigkeiten des Europäischen Winters zu rüsten. Die aktuell gültige empirische Formel für die Berechnung des Windchill sieht wie folgt aus:

T_{WC} = 13{,}12 + 0{,}6215 \cdot T_L – 11{,}37 \cdot v_W^{0{,}16} + 0{,}3965 \cdot T_L \cdot v_W^{0{,}16} \!

Die Windchill-Temperatur ergibt sich dabei bei einer Windgeschwindigkeit, die 10 m über Grund gemessen wird und entspricht der äquivalenten Temperatur bei schwachem Wind von 1,34 m/s („Winstille“), welche bei Wind zur selben Wärmeverlustrate auf der dem Wind ausgesetzten Hautfläche führt. Trägt man die Windchill-Temperatur TWC (°C) gegen die Windgeschwindigkeit vW (km/h) für verschiedene Luft-Temperaturen TL (°C) auf, so ergibt sich folgendes Diagramm:

Windchill-Temperatur in Abhängigkeit von der Windgeschwindigkeit
Die Windchill-Temperatur in Abhängigkeit von der Windgeschwindigkeit bei verschiedenen Lufttemperaturen.

Beispiel: Eine Luft-Temperatur von -20 °C würde bei einer Windgeschwindigkeit von 100 km/h als knapp -40 °C empfunden.

Bei Temperaturen über 10 °C kommen neue Effekte ins Spiel. Der Körper gleicht zu hohe Temperaturen durch vermehrte Schweißabsonderung aus, durch die Verdunstung wird dem Körper Wärme entzogen. Dieser Effekt verursacht bei niedrigen Temperaturen den unerwünschten Windchill, bei hohen ist er essentiell für das Funktionieren des körpereigenen Wärmehaushaltes. Wenn nun die umgebende Luft bereits Wasserdampf in erheblichen Mengen enthält, ist der Verdunstungseffekt kompromittiert.

Der Heat Index

Der englische Begriff Heat Index steht für Wärmeindex bzw. Hitzeindex und trägt der reduzierten Verdunstung bei hoher Luftfeuchtigkeit Rechnung. Basierend auf detaillierten Betrachtungen zum Hitzehaushalt im menschlichen Körper kann folgende Näherungsformel für die Berechnung des Hitze-Index angegeben werden:

\begin{eqnarray*}
T_{HI} &=& 2{,}211732 \cdot 10^{-3} \cdot T_L^2 \cdot \varphi – 3{,}582 \cdot 10^{-6} \cdot T_L^2 \cdot \varphi^2 – 1{,}2308094 \cdot 10^{-2} \cdot T_L^2 + \\
&& + 7{,}2546 \cdot 10^{-4} \cdot T_L \cdot \varphi^2 – 0{,}14611605 \cdot T_L \cdot \varphi + 1{,}61139411 \cdot T_L – \\
&& + 1{,}6424828 \cdot 10^{-2} \cdot \varphi^2 + 2{,}338549 \cdot \varphi-8{,}784695
\end{eqnarray*}\!

Die Heat-Index-Temperatur ergibt sich dabei bei bei niedriger Windgeschwindigkeit und moderater Sonneneinstrahlung und entspricht der äquivalenten Temperatur bei einem Partialdruck des Wasserdampfes von 1,6 kPa. Trägt man die Heat-Index-Temperatur THI (°C) gegen die relative Luftfeuchtigkeit \varphi (%) für verschiedene Luft-Temperaturen TL (°C) auf, so ergibt sich folgendes Diagramm:

Heat-Index-Temperatur in Abhängigkeit von der relativen Luftfeuchtigkeit
Die Heat-Index-Temperatur in Abhängigkeit von der Windgeschwindigkeit bei verschiedenen relativen Luftfeuchtigkeiten.

Beispiel: Eine Luft-Temperatur von 30 °C würde bei einer relativen Luftfeuchte von 70% als knapp 35 °C empfunden.

Über Sinn oder Unsinn des Windchill bzw. des Heat Index lässt sich jedenfalls vortrefflich streiten. Schmächtigere Menschen kühlen leichter aus, Eskimos empfinden -20 °C wohl auch bei starkem Wind als warm, Konvektion ist stark vom Luftdruck abhängig, bei Windstille konvergiert die Näherungsformel nicht zur Umgebungstemperatur. Schließlich hat auch die Luftfeuchtigkeit einen Einfluss auf das Kälteempfinden. Trotzdem stellt der Windchill-Ansatz einen de-facto-Standard dar und ist vor allem in Nordamerika massiv im Einsatz.
Nimmt die Luftfeuchtigkeit zu, steigt neben der Bewölkung auch die Niederschlagswahrscheinlichkeit, die Sonneneintrahlung und damit auch die Lufttemperatur sinken, was wiederum die relative Luftfeuchtigkeit erhöht. Diese negative Rückkopplung begrenzt die maximal mögliche Luftfeuchtigkeit bei einer gewissen Temperatur. Der Heat Index berücksichtigt weiters auch keine Windgeschwindigkeit oder Strahlungsintensität der Sonne, obige Näherungsformel ist zudem für extreme Werte sehr ungenau.

In den nächsten Tagen werden die aktuelle Wetterwerte für Südtirol auf dem Südtiroler Wetterportal mit einem Wert für die gefühlte Temperatur ergänzt.