Ich habe ein Attribut gesucht für diesen Abend, folgendes ist mir eingefallen: stark. Es war echt ein intensiver Diskussionsabend, in dem es keine Flauten gab, so dass wir in einem Maße den Diskussionszeitraum überzogen haben, wie kaum einmal zuvor.

Simon Constantini muss bescheinigt werden, dass er seine Positionen gut unterbreitet und auch gut verteidigen kann. An gelebter Überzeugung fehlte es jedenfalls nicht. Kritiken weiß er bestens zu begegnen und in seiner ruhigen und gelassenen Art kombiniert mit einer Standhaftigkeit, die man sich von so manchem Politiker nur erträumen kann, meistert er auch noch so heikle Momente und lässt sich nicht in die Enge treiben. Für einen Nichtpolitiker – Simon ist beruflich Architekt – muss ihm auf jeden Fall Respekt gezollt werden.

Simon Constantini unterhält einen Blog mit der Bezeichnung Brennerbasisdemokratie. In diesem Blog hat er sein Manifest für ein eigenständiges Südtirol veröffentlicht. Diesem Postulat liegt eine grundlegende Skepsis gegenüber dem Nationalstaat zu Grunde. Nationalstaaten funktionieren seiner Meinung nach nicht gut; es werden dabei all zu sehr divergierende Regionen in ein Staatsgefüge gepresst, die viel zu wenig gemeinsame Interessen haben. Viel besser wäre der Weg der regionalen Einheiten, die sich freiwillig zusammentun und gemeinsame Ziele verfolgen. Der Ansatz ist aber nicht so sehr ein patriotischer, wie etwa bei der Südtiroler Freiheit oder den Freiheitlichen. Die Beweggründe sind anderer Natur. Hauptanliegen ist, Südtirol aus den Fesseln der Sprachgruppenlogik bedingt durch das Autonomiestatut und der Zugehörigkeit zum italienischen Staat zu befreien. Das Autonomiestatut, so viel es einerseits für das Land gebracht hat, so sehr ist es andererseits einengend in Bezug auf ein konstruktives Zusammenleben der einzelnen Sprachgruppen. Der Proporz mit all seinen Vor- und Nachteilen bedingt, dass sich die in Südtirol lebenden Menschen zuerst einmal als deutsch-, italienisch- oder ladinischsprechend bezeichnen und dann erst als Südtiroler. Das Trennende steht im Vordergrund. Es gibt eigene Kulturabteilungen für die einzelnen Sprachgruppen, Schulämter, pädagogische Institute, Schulen usw.; ganz nach dem Motto: Wie mehr getrennt wird, umso besser kann der Frieden unter den Sprachgruppen gewährleistet werden. Der Grund ist die Zugehörigkeit Südtirols bei einem für die deutschen Südtiroler fremden Saat, vor dem man sich ständig in Acht nehmen muss, dass man nicht unter die Räder kommt. Ebenfalls wird in Südtirol aufgrund dieser Tatsache ein politischer Normalisierungsprozess erschwert. Dazu gehört, dass irgendeinmal die Vorherrschaft einer einzelnen Partei gebrochen wird, ein Machwechsel stattfinden kann und so grundlegende demokratische Spielregeln zur Anwendung kommen. Die Macht der SVP, aber scheint bei uns geradezu zementiert zu sein, eine Partei, die eben dieses Zusammenhalten der deutschen Sprachgruppe propagiert, um besser den Attacken von Seiten des Nationalstaates und dem kalten Wind aus Rom zu entgegnen.

Auf die Frage, warum Simon sein Manifest als Blog der Südtiroler Öffentlichkeit kundtut, antwortete er, dass dies seine bevorzugte Schiene der Kommunikation sei und relativ viele Personen im Verhältnis zum notwendigen Aufwand erreicht werden können: immerhin zählt er zwischen 300 und 400 Zugriffe täglich auf seinen Blog.

Ganz besonders wichtig ist für Simon auch eine gute Vorbereitung für den Weg in die Selbständigkeit. Die Südtiroler Bevölkerung muss bereits im Vorfeld wissen, auf was sie sich dabei einlässt. Das Vorgehen der Südtiroler Freiheit mit ihrer Volksbefragung, die sie im Ahrntal bereits durchgeführt haben und nun auch noch im restlichen Landesgebiet abhalten möchten, hält Simon geradezu als fahrlässig und dem Ziel, Südtirol die Eigenständigkeit zu bescheren, überhaupt nicht zuträglich. Vorher muss eine detaillierte Verfassung ausgearbeitet werden. Es muss z.B. sicher sein, dass sich im neuen Staat nicht eine Sprachgruppe die Verfassungsvorgaben für sich zurechtschneidert und dann gewisse Vorteile genießt. Wichtig ist auch die Festlegung der Mehrsprachigkeit: jeder kann zwar in seiner Sprache sprechen, der Staat muss aber die Mehrsprachigkeit garantieren (Nationalstaaten haben daran grundsätzlich kein Interesse). Auch ethnische Parteien darf es in einem solchen Staat keine geben.

Unumgänglich erscheint weiters, dass die italienisch sprechende Südtiroler Bevölkerung miteinbezogen wird; dies bedeutet im Klartext, dass mindestens die Hälfte davon sich auch für einen selbständigen Staat Südtirol ausspricht. Die Südtiroler italienischer Muttersprache dürfen nicht überrumpelt werden. In diesem Punkt treffen sich sogar die Brenerbasisdemokratie und die Südtiroler Freiheitlichen, von deren Modell eines Südtiroler Freistaates und der dafür ausgearbeiteten Verfassung distanziert sich Simon Constantini ansonsten ganz klar.

Als Beispiel, wie das Schulsystem geregelt werden könnte, wurde Katalanien angeführt. Die Bevölkerung dort ist zu 80 % katalanisch sprechend und zu 20 % spanisch sprechend. Die Schulen sind gemischtsprachig: der Unterricht erfolgt zu 80 % auf Katalanisch und zu 20 % auf Spanisch. Ein ähnliches Modell könnte auch in Südtirol zur Anwendung kommen und zwar in sämtlichen Schulen, egal ob in Bozen oder Ahrntal.

In der Diskussion wurden dann aber dennoch einige Vorbehalte gegen dieses Experiment der Eigenstaatlichkeit vorgebracht (in Klammern und kursiv die Antworten von Simon Constantini):

  • Voraussetzungen für ein besseres Zusammenleben der Sprachgruppen sind bereits gegeben; in den ladinischen Tälern z.B. gibt es bereits die mehrsprachige Schule und auch sonst ist dort das Zusammenleben der Sprachgruppen sehr gut. (Die gemischsprachige Schule ist nur für die ladinischen Täler vorgesehen, in den restlichen Landesteilen ist sie nach der heutigen Gesetzeslage nicht möglich. Die Voraussetzungen können ganz allgemein noch erheblich verbessert werden, die heutige Trennung der Sprachgruppen gilt es aufzuheben und ein besseres Aufeinanderzugehen der Sprachgruppen gilt es institutionell besser zu verankern.)
  • Uns geht es ja mit unserer Autonomie so gut, warum sollten wir da einen eigenen Saat anstreben? (Wir werden es uns doch nicht verbieten, nur weil es uns verhältnismäßig gut geht, die Situation noch zu verbessern, denn Verbesserungspotential gibt es.)
  • Ist die Finanzierbarkeit eines eigenen Staates Südtirol gegeben? (Südtirol gilt als eines der reichsten Länder, ein eigenes Staatsgebilde müsste deshalb durchaus finanzierbar sein.)
  • Experiment mit unabsehbaren Folgen: niemand kann hundertprozentig sagen, das es uns in einem eigen Staat wirklich besser geht, und ob das Zusammenleben dann wirklich besser funktioniert; ist Südtirol reif für eine derartigen Schritt?
  • Das Zusammenleben funktioniert eh schon besser als allgemein dargestellt (Probleme werden künstlich hochgehalten
  • Ein Staat Südtirol braucht eine eigene Außenpolitik, ein eigenes Militär usw. Ist ein solcher Aufwand gerechtfertigt und sinnvoll? (Diesbezüglich können Kooperationen mit anderen Staaten eingegangen werden, womit der Aufwand in Grenzen gehalten werden kann.)
  • Kann die italienisch sprechende Bevölkerung Südtirols für die Idee eines eigenen Staates Südtirol gewonnen werden? (Das weiß man heute nicht so genau, wie viel italienische Südtiroler sich für einen eigen Staat aussprechen, wurde nie erhoben. Vielleicht gibt es auch heute noch keine Mehrheit, aber morgen könnte es sie geben.)

Trotz der griffigen Antworten blieb bei einem Großteil der Diskussionsteilnehmer eine gewisse Skepsis gegen ein eigenes Staatsgebilde Südtirol erhalten. Allerdings kann das Vorhandensein eines erheblichen Verbesserungspotentials in Südtirol, gerade was das Zusammenleben der Sprachgruppen anbelangt oder die Normalisierung der politischen und demokratischen Verhältnisse nicht abgestritten werden. Verbesserungen auf diesen Gebieten sind absolut erstrebenswerte Ziele. Deshalb erscheint mir persönlich das Manifest der Brennerbasisdemokratie als eine „sympathische Provokation“, aber zum heutigen Zeitpunkt schwer umsetzbar.

Schließlich mussten auch die Befürworter des Manifests Brennerbasisdemokratie eingestehen, dass es ein steiniger Weg sein wird, die Unabhängigkeit Südtirols zu erreichen, so lange Italien Südtirol nicht loslassen will und auch bei der italienischsprachigen Bevölkerung Südtirols nicht sicher ist, ob sie einer derartige Verselbstständigung Südtirols überhaupt wünscht.

Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang die ablehnende Haltung von Seiten der Grünen zu nennen. Mit den Grünen hat die Brennerbasisdemokratie die ökosoziale und sozialdemokratische Grundhaltung gemeinsam, aber bezüglich Eigenstaatlichkeit gehen sie scheinbar getrennte Wege (möglicherweise fürchtet die interethnische Bewegung der Grünen um ihrer italienischen Wählerschaft).

Mehrere Diskussionsteilnehmer plädierten dafür, dass auch ohne eigenen Staat, die Möglichkeiten – welcher Art auch immer – genutzt werden sollten, um ein verbessertes Miteinander der Sprachgruppen und ein ausgewogeneres Kräftemessen der politischen Parteien zu erreichen. Wenn einmal ein Europa der Regionen gegenüber den Nationalstaaten an Boden gewinnt oder auch aus anderen Gründen deren Grenzen zu wackeln beginnen, dann wird die Verselbständigung Südtirols eh nicht aufzuhalten sein.