Bereits in der Einführungsrunde wurde von den Diskussionsteilnehmern vor allem die langen Prozessdauern gebrandmarkt. Wenn jemand mit der Justiz zu tun kriegt und seine Lage von einem Gerichtsurteil abhängt, dann ist er arm dran. Andererseits ist dieses System für jene von Vorteil, die sich womöglich effektiv etwas zu Schulden haben kommen lassen, aber durch Verjährung sich aus der Affäre ziehen können. Die Sache hat nur einen Hacken; die Verjährung kommt nur jenen zu Gute, die sich lange Prozesse leisten können und über das nötige Kleingeld verfügen, um eine Schar exzellenter Rechtsanwälte durchzufüttern und bei guter Stimmung zu halten. Es herrscht die Meinung vor, dass letztlich derjenige Recht bekommt, der sich die besten Rechtsanwälte leisten kann und dass Änderungen in diesem eingefahrenen System nicht in Sicht sind. Möglicherweise braucht es auch im Justizwesen eine übergeordnete Instanz (wie es bei den Staatsfinanzen die EU ist), um notwendige Reformen und Verbesserungen in der italienischen Gerichtsbarkeit voran zu bringen.
Axel Bisignano, stellvertretender Staatsanwalt beim Gericht in Bozen, widersprach diesen Ausführungen nicht. Er wies weiters auf so manch anderen Misstand hin; Probleme die auf Missfunktionen im Justizsystem selbst zurückzuführen sind und die teilweise in der Bevölkerung weniger bekannt sind.
Zuallererst hat Bisignano uns die wichtigsten Merkmale des italienischen Justizsystems beschrieben.
In Italien herrscht vollkommene Gewaltenteilung, die Gerichtsbarkeit ist unabhängig von der Politik und dies ist in der Verfassung so verankert. Die Richter verwalten sich selbst durch den Obersten Richterrat, dessen Zusammensetzung nicht die Politik, sondern die Richter selbst bestimmen. Die Karrieren der Richter und Staatsanwälte sind nicht getrennt. Der Staatsanwalt ermittelt und beantragt daraufhin die Einleitung des Verfahrens oder auch nicht. Im Verfahren hat dann der Richter die Aufgabe, über den Fall zu urteilen an Hand der Informationen und Eingaben von Seiten des Staatsanwaltes und des Verteidigers.
Darauf hin ging Bisignano über, die wichtigsten Gründe auszuführen, warum das Justizsystem in Italien eher schlecht funktioniert:
- Die relativ niedrige Anzahl der Richter trägt wesentlich zur Verschleppung der Gerichtsverfahren bei. In Italien gibt es ca. 60 Millionen Einwohner und nur 10.000 Richter. Verglichen mit Deutschland sind das wenig, wo es bei einer Bevölkerungszahl von ca. 80 Millionen ungefähr 20.000 Richter gibt. Es sind allerdings die Richtern selbst, die sehr darauf Acht geben, dass die Anzahl der Richter und Staatsanwälte nicht all zu sehr zunimmt. Sie wissen sehr gut ihre Standesinteressen zu vertreten. Bei einer größeren Anzahl, könnte es nämlich dazu kommen, dass ihr Gehalt niedriger ausfällt. Die Gerichtsbarkeit verfügt nun mal nur über genau fest gelegte Finanzmittel, die nicht größer werden, wenn die Anzahl der Richter zunimmt. Es sind dies ca. 1-2 % des Sozialprodukts (ähnlich wie in anderen Ländern Europas); davon verschlingen einen großen Teil die Gefängnisse, die Gerichtspolizei und das Kanzleipersonal.
- Ein weiterer Schwachpunkt im System ist die Tatsache, dass die wirtschaftliche Karriere bei Staatsanwälten und Richtern von der eigentlichen Karriere getrennt ist. Alle vier Jahre steht eine Gehaltsverbesserung an (aufgrund einer Leistungsbewertung durch die jeweiligen Vorgesetzten und verschiedenen anderen übergeordneten Gerichtsinstanzen) und zwar bis zum 28. Dienstjahr. Führungspositionen werden nicht bezahlt. Jedenfalls handelt es sich um relativ konsistente Erhöhungen, womit sich schlussendlich ein stattlicher Gehalt ergibt.
- Italien hat bezüglich der Prozessordnung (sowohl für das Straf- als auch für das Zivilgericht) Ende der achtziger Jahre das so genannte amerikanische System übernommen (Kreuzverhör, alles wird schriftlich abgewickelt, der Richter ist blind – er kennt die Ermittlungsakte nicht schon im Voraus). Das amerikanische System hat klare Vorteile; es ist aber auch dazuzusagen, dass in Amerika nur ca. 10 % der Verfahren nach diesem aufwendigen System abgewickelt werden.
- In Italien ist der Drang zum Hauptverfahren viel größer und zwar wegen der Möglichkeit der Verjährung, die es in Amerika gar nicht gibt. Der Grund warum die Verjährung eingeführt wurde ist, dass wenn im Laufe des Prozesses, der oft sehr lange dauern kann, der Angeklagte nicht rückfällig wird, von einer Bestrafung abgesehen und das Verfahren eingestellt wird. Was eigentlich als Entgegenkommen gegenüber den Angeklagten gedacht war, ist mittlerweile vielfach zu einer Strategie verkommen, um einer Verurteilung zu entgehen. Es geht also darum, sich einen guten Anwalt zu leisten, dem es gelingt, das Verfahren derart in die Länge zu ziehen, um die Verjährung zu erreichen. Auf dem Gericht in Brescia reicht es einen gewissen Geldbetrag zu berappen und die Verjährung ist gesichert. Die Verjährungsfristen stehen im direkten Verhältnis zu der Schwere der Straftat. Unter der Regierung Berlusconi wurden diese Fristen erheblich herabgesetzt. In Deutschland und Österreich hat man bezüglich der Prozessordnung einen Mittelweg gewählt. Eine Verjährung gibt es in beiden Ländern nicht.
- Die italienische Richterschaft fordert das österreichische oder deutsche System und vor allem auch die Abschaffung der Verjährung. Der Verfassungsgerichtshof ist aber nicht befugt, diese Änderungen durchzuführen, das kann nur die Politik. Die Rechtsanwälte sind gegen derartige Änderungen im italienischen Rechtssystem. Schließlich und endlich profitieren sie nicht unerheblich von den langen und aufwendigen Verfahren. Es bleibt also abzuwarten, wie viel die derzeitige Regierung durchsetzen kann. Die heutige Justizministerin ist jedenfalls auch eine Anwältin.
- Es wird auch viel von einer Überlastung der Gefängnisse gesprochen. Dabei muss in vielen Fällen die verhängte Gefängnisstrafe nicht abgesessen werden. Bei Strafen bis zu drei Jahren landet man erst gar nicht im Gefängnis und auch der letzte Teil einer Gefängnisstrafe muss normalerweise nicht hinter Schloss und Riegel verbracht werden. Die elektronische Fußfessel hat leider in Italien nicht funktioniert.
In der Diskussion kamen zu den von Bisignano angesprochenen Punkten noch weitere Aspekte hinzu.
- Kleinere Delikte, wie das Beschmieren von Wänden mit Hackenkreuzen oder Fahrraddiebstähle, können von der Staatsanwaltschaft nicht weiter verfolgt werden, es sei denn es liegen klare Indizien über die Täter vor.
- Oft wird angeführt, dass die Untersuchungshaft zur Überlastung der Gefängnisse führt. Dem ist aber nicht so. Jemand der aus diesem Grund im Gefängnis sitzt ist entweder bereits vorbestraft oder es handelt sich um schwere Straftaten (Mord, unter Umständen auch Korruption).
- Wie weit spielen Formfehler eine Rolle beim Ausgang des Prozesses? Für Bisignano ist es gerechtfertigt, dass bei einem Formfehler im Verfahren der Angeklagte nicht belangt werden kann. Z.B. wenn eine Abhöraktion unrechtmäßig war. Dies stellt einen wichtigen Schutz für den Angeklagten dar. Nicht alle Diskussionsteilnehmer konnten sich damit anfreunden, dass aufgrund von Formfehler Verbrecher nicht ihre gerechte Strafe erhalten.
- Ein weiteres Problem stellt die Gutachtertätigkeit für das Gericht dar, die dermaßen schlecht bezahlt wird, so dass deren Qualität darunter leidet und diese Tätigkeit schließlich für die Gutachter völlig uninteressant wird.
- Der Kontakt zu den Medien ist mittlerweile genauestens geregelt. Für die Medienarbeit ist grundsätzlich nur der Oberstaatsanwalt zuständig. Die jeweiligen Staatsanwälte geben keine Interviews, es sei denn sie werden eigens vom Oberstaatsanwalt ermächtigt.
- Beim Prozess bezüglich der Wählbarkeit Durnwalders, ist dem Anwalt der klagenden Partei ein schwerwiegendes Versäumnis unterlaufen. Den Klägern ist es aber nicht gelungen, den Anwalt dafür haftbar zu machen. Bisignano verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass in Zukunft die diesbezügliche disziplinarrechtliche Zuständigkeit nicht mehr bei der Kammer der Rechtsanwälte liegen soll sondern bei einer unabhängigen Instanz.
- Die große Anzahl von Rechtsanwälten in Italien an sich ist schon mit gewissen Problemen verbunden und mit ein Grund, dass viel zu viele Prozessen angestrengt werden, bei denen es oft nur um Lappalien geht.
- Schließlich fiel noch das Stichwort Mediation. Kann dadurch das Gericht entlastet werden oder wird nur ein zusätzlicher Schritt eingeführt, wodurch alles nur noch komplizierter und noch langwieriger wird? Es gibt dazu kaum Erfahrungen, weshalb es auch keine klare Antwort auf diese Frage gibt. Die Anwälte sprechen sich eher dagegen aus. Sie sagen, die Rolle des Vermittlers wir eh schon von ihnen wahrgenommen.
Das Gespräch mit unserem Gast, Staatsanwalt Bisgnano, war sehr aufschlussreich. Trotzdem ist es den meisten lieber, nicht Gegenstand seiner beruflichen Tätigkeit zu werden. Er selbst sieht darin allerdings keinen Grund sich zurückzuziehen, wie dies so mancher seiner Kollegen macht. Im Gegenteil er sucht den Kontakt zu den Bürgern und ist deshalb auch gern zum Freitasalon gekommen.
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