Mit Karin Wallnöfer hatten wir eine ausgesprochene Chinaexpertin in unserer Runde. Nach ihrem Studium über Chinesologie in Bologna beschäftigte sie sich mit Shiatsu und Chigong, aber auch mit der chinesischen Medizin und in diesem Zusammenhang vor allem mit der diesbezüglichen Ernährungslehre. Da sie nicht eine Medizinerin im eigentlichen Sinn ist, kann sie im Heilungsbereich nicht tätig sein. Sie wirkt heute vor allem im Ausbildungswesen (in Bologna, Neustift bei Brixen, Österreich); ihr Hauptthema ist die chinesische Ernährungslehre.

Was man unter chinesischer Medizin versteht, erklärte uns Karin anhand eines konkreten Krankheitsbildes: die Gastritis. Bei Gastritis handelt es sich um eine Entzündung der Magenschleimhaut, ausgelöst durch eine Überproduktion an Magensäure oder durch eine bakterielle Infektion (Helicobacter pylori). In beiden Fällen ist die Magenschleimhaut einer großen Belastung ausgesetzt, sie kann sich irgendwann nicht mehr genügend schützen und es entstehen Entzündungsherde.

Wie nun einerseits die traditionelle chinesische Medizin und andererseits die so genannte moderne Medizin mit dieser Krankheit umgehen, ist sehr unterschiedlich.

Die moderne Medizin (MM) greift bei der Diagnose Gastritis zu Säureblocker, so genannte Protonenpumpenhemmer, bzw. zu Antibiotica. Damit wird meistens schon eine gewisse heilende Wirkung erzielt, aber nicht auf Dauer. In der Regel taucht die Krankheit bald wieder auf, nachdem die Kur ausgesetzt wird. Wenn nicht auch gleichzeitig begleitende Maßnahmen getroffen werden, ist keine längerfristige Heilung möglich.

Bei der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) spielt der präventive und ganzheitliche Ansatz eine ganz entscheidende Rolle. Der Arzt setzt sich in diesem Fall in ganz besonderer und vor allem ganzheitlicher Weise mit dem Patienten und dessen Lebensstil auseinander. Bereits auf allererste Zeichen einer Gastritiserkrankung muss reagiert werden. Die Diagnosetechniken sind andere als diejenigen der Schulmedizin, mit denen in diesen Stadien der Krankheit wahrscheinlich noch nichts festgestellt werden könnte. Der TCM steht z.B. die Puls-, Zungen oder Irishautdiagnose zur Verfügung. Damit kann eine sich anbahnende Gastritis viel früher festgestellt werden als dies mit den Methoden der MM möglich ist.

Die traditionelle chinesische Medizin arbeitet von Anfang an auf zwei Ebenen: die präventive und die heilende Ebene. Der Patient wird in seiner Ganzheit betrachtet. Es gilt genauestens anzuschauen, wie er lebt, wie er sich ernährt, ob er ausreichend schläft usw., auch die Gefühlswelt, die seelische Komponente gehört dazu. Gerade bei einer Gastritis spielt das Emotionale eine ganz wichtige Rolle. In der Sprache der TCM heißt es dann folgendermaßen: wenn Emotionen nicht ausgelebt werden, wenn es zu einem Emotionenstau kommt, wird Hitze erzeugt. Dies führt wiederum dazu, dass der Magen zu viel arbeitet und somit weitere Hitze erzeugt; so kann ein Magenfeuer entstehen, das wir Gastritis nennen. Weiters wird darauf geachtet, ob nicht vielleicht noch ein weiteres Feuer im Patienten vorhanden ist, z.B. ein Leberfeuer. Dies ist nämlich wichtig für die Behandlung und damit wären wir auch schon bei der zweiten Wirkungsebene der TCM, die Heilungsebene. Die Heilungstherapie wird immer, wie bereits oben hingewiesen, auf den Gesamtzustand des Patienten abgestimmt. Mit verschiedenen Mitteln und Methoden wird dabei gearbeitet. Die wichtigsten davon sind: Teekuren, gezielte Ernährung, Akupunktur, Meditation u.ä. Die Heilungsmethoden und –mittel werden individuell auf den Einzelnen abgestimmt, denn jeder ist und reagiert anders. Sie müssen auch von Zeit zu Zeit wieder neu abgestimmt werden, da sich im Menschen immer wieder was ändert. Es handelt sich um sanfte Mittel und Methoden, die in der Regel nur mehr wenig bewirken können, wenn eine Krankheit einmal richtig ausgebrochen ist, aber im Vorfeld verhindern können, dass es überhaupt dazu kommt.

Damit Prävention gelingen kann, muss der Patient selbst einen wichtigen Beitrag leisten. Dessen eigene Körperkompetenz spielt in diesem Zusammenhang eine ganz wichtige Rolle. Diese ist in der Regel bei den Chinesen erheblich besser ausgeprägt als bei uns Europäer. Sie geben viel mehr Acht auf ihre körperliche Befindlichkeit. Es geht deshalb in der TCM auch nicht so sehr darum Krankheiten zu besiegen, sondern viel mehr darum in Gesundheit zu leben und das ist wiederum Voraussetzung dafür, voll im Leben zu stehen, Lust haben zu leben und die Fähigkeit, sich darauf zu konzentrieren.

In der TCM werden zwei Richtungen unterschieden:

Die Taoistische Richtung. Für die Taoisten können in einem komplexen System eigentlich keine 100 %igen Aussagen getroffen werden. Sie können sehr gut mit dem Chaos leben. Das Tao ist zu groß, um es beschreiben zu können und der Mensch zu klein, um es in seiner Gesamtheit verstehen zu können.

Die Konfuzianische Richtung. Für diese Schule steht der Mensch im Mittelpunkt, er ist das Maß aller Dinge. Die Anhänger dieser Richtung versuchen eine gewisse Ordnung und Struktur in das weite Feld der traditionellen chinesischen Medizin hineinzubringen. Dadurch kann mehr Überschaubarkeit bei der Vielzahl an Methoden und Mittel erzeugt werden. Aber genau diese vorgegebenen Regeln begrenzen auch gleichzeitig das Wirkungsfeld der TCM, wenn Schemata im Vordergrund stehen und die Erfahrungen des einzelnen Mediziners sowie die individuelle Behandlung des Patienten in den Hintergrund gestellt werden.

Nun hat es sicherlich wenig Sinn, der TCM in jeglicher Hinsicht gegenüber der MM den Vorzug zu geben. Immer größere Anwendung findet sie bei allen möglichen chronischen Krankheiten und bei Befindlichkeitsstörungen oder auch in den Vorstadien gewisser Krankheiten, wenn die MM sozusagen noch „blind“ ist.

Bezüglich der Behandlungsmethoden ist weiters zu unterstreichen, dass in Europa gewisse Methoden der TCM, wie die Akupunktur, schwerpunktmäßig zur Anwendung kommen. In China hat eindeutig die Arzneimitteltherapie den Vorzug. Es gibt in China viel mehr Wissen über die verschiedensten Heilmittel als bei uns. Man hat dort viel mehr Mittel, die nur irgendwie in der Natur zu finden sind, ausprobiert. So verfügen die Chinesen über erheblich mehr Wissen bezüglich der Verbindung Diagnose – Wirkung der Kräuter (viel systematischer und besser ausgebaut, als bei uns). An Empirie fehlt es nicht, womit allerdings nicht eine analytische Empirie in unserem Sinne gemeint ist (von Biochemie oder Anatomie hat die TCM keinen Tau). Es ist deshalb so, dass sich in der TCM Einiges an Ramsch angesammelt hat, aber auch in der MM läuft nicht alles so rational ab, wenn man bedenkt, dass 20 % der Ärzte Antibiotica bei viralen Infekten oder auch präventiv verschreiben.

Wie bereits erwähnt, spielt die Prävention in der chinesischen Medizin eine ganz wichtige Rolle. Eine gesunde Ernährung und ganz allgemein ein ausgeglichener Lebensstil sind entscheidend. Dazu gehört genügend Bewegung genauso wie das Einlegen von ausreichenden Ruhepausen. Grundsätzlich soll einem möglichst natürlichen Lebensrhythmus gefolgt werden. Eine ausgeglichene Gefühlswelt und Sexualität sind ebenfalls Grundvoraussetzung für ein gesundes Leben. Werden gewisse Emotionen (z.B. Ärger) zu stark, kann leicht auch der Körper aus dem Gleichgewicht geraten.

Bezüglich gesunder Ernährung scheint sich der Europäer besonders schwer zu tun. In unserer Ernährung fehlen großteils die komplexen Proteine, wie sie vor allem in Hülsenfrüchten und vollen Getreidesorten vorkommen (Hirse, Dinkel, Gerste, Buchweizen usw.). Es wird auch viel zu fett und schlackenreich gegessen. Der Fleischkonsum ist zu hoch. Wir essen auch am Abend zu ausgiebig, dabei sollte man in der Früh wie ein Kaiser, zu Mittag wie ein Edelmann und am Abend wie ein Bettler essen. Wichtig ist schließlich noch zu erwähnen, dass den gekochten Speisen der Vorzug gegeben werden soll: sie unterstützen die Verdauung, erleichtern die Aufnahme von Vitaminen und verbessern ganz allgemein den Stoffwechsel.

Aus der Diskussionsrunde kamen nicht nur zustimmende Worte, einzelne Teilnehmer äußerten unverhehlt ihre Skepsis gegenüber der chinesischen Medizin. Fehlende wissenschaftliche Grundlagen wurden angeführt, aber auch Zweifel, ob die Methoden der TCM überhaupt geeignet seien für uns schnelllebige Europäer, wegen dem zeitlichen Aufwand, den sie beanspruchen. Es gab gewisse Vorbehalte nach dem Motto, „was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht“.

Die mangelnde Wissenschaftlichkeit wurde allerdings gar nicht abgestritten, sie ist in gewisser Weise sogar eine Stärke der TCM, so wie dies auch bei den anderen Formen der Komplementärmedizin der Fall ist. Sollte es aber gelingen gewisse Anwendungen der TCM, auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen, so wäre dies sicherlich von Vorteil.