Das Thema erwies sich als ein relativ zähes. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass ein nicht unerheblicher Teil der Anwesenden sich nicht leicht tat, in das Thema hineinzufinden. Das Interesse allerdings darüber, was Spiritualität ist, wie Spiritualität erfahren werden kann, war eindeutig vorhanden. Aber es wird wohl so sein: wenn jemand bis heute den Zugang zur Spiritualität nicht gefunden hat, dann wird ihm das höchstwahrscheinlich auch nicht an einem Diskussionsabend gelingen. Die Diskussion war schließlich schon doch recht lebendig, wenn sie auch zeitweise etwas zerfranste. Interessant und mutig fand ich jedenfalls, dass neben Robert Hochgruber auch eine Reihe weitere Teilnehmer ihre spirituellen Erfahrungen nicht hinterm Berg hielt. So konnten wir einen Hauch von dem mitkriegen, dass Spiritualität etwas sehr Persönliches ist und auch davon, dass wir möglicherweise alle spirituell unterwegs sind, auch jene, die glauben, es nicht zu sein.

Robert Hochgruber hat eine kurze, aber, ich fand, eine sehr prägnante Einleitung zum Thema Spiritualität gegeben: Spiritualität bedeutet in die Tiefe, in sich zu gehen und die ganze Dimension des Lebens zu erfahren. Man kann es Erfahrung der Gottheit, der Ganzheit oder Erleuchtung nennen. Robert hat einen eindeutig religiösen Zugang zur Spiritualität. Er zitiert u.a. Willigis Jäger, für den Gott nicht außerhalb des Menschen und der Welt ist, sondern er ist in uns und in unserer Welt. Diese Aussage bedeutet bereits eine Kritik an der Kirche, die Gott außerhalb des Menschen und der Welt stellt. Dabei darf der Ansatz Jägers, dass „Gott in allem ist“ nicht mit Pantheismus verwechselt werden; Pantheismus bedeutet, dass „alles Gott ist“.

Spiritualität ist aber nicht nur etwas für religiöse Menschen. Zur eigenen Mitte, zu sich und den eigenen wahren Bedürfnissen zu finden, was letztlich etwas ganz Großes ist, ist nicht nur religiösen Menschen vorbehalten.

Die kontemplative Meditation ist Roberts Weg zur Spiritualität. Täglich nimmt er sich zwischen einer halben und einer ganzen Stunde Zeit, in der er sitzend versucht seinem Atem zu folgen und in die Tiefe zu gehen. Aus diesen meditativen Sitzungen kann er viel Kraft und Energie gewinnen, sie leisten ihm eine große Hilfe, zu einer gewissen Gelassenheit zu gelangen. Gelassenheit ist wiederum wichtig, um die Dinge annehmen zu können, wie sie sind. Es wird einem ermöglicht, Umstände hinzunehmen, die man eh nicht ändern kann. Auf diese Weise kann man nicht unwesentlich sein Leben erleichtern und seine Lebensqualität verbessern.

Alle Religionen dieser Welt weisen mehr oder weniger ausgefeilte spirituelle Ansätze auf. Auch die christlichen Religionen. Das Christentum hat uns einen großen Schatz an Spiritualität überlassen. Die Kirchengeschichte kann eine Reihe großer christlicher Mystiker aufweisen. Eine Kirche ohne Mystik wird auf die Dauer nicht lange Bestand haben. Leider haben sich gerade die christlichen Kirchen in jüngster Vergangenheit immer mehr auf die Verwaltung Gottes beschränkt, und sich weniger auf die gelebte Spiritualität und Gottesgläubigkeit konzentriert. Etwas krass ausgedrückt kann man sagen, die Kirche hat auf diese Weise die Christen um ihre Spiritualität betrogen, was allerdings, wie bereits oben erwähnt, ganz und gar nicht der Tradition des Christentums entspricht.

Der christliche Weg zur Spiritualität ist die Mystik, die Suche nach Gott und die christliche Meditation ist die Kontemplation (das Rosenkranzbeten ist in gewisser Weise eine Form christlicher Meditation). Dabei geht es darum, das so genannte Sein zu leben. Ich bin bei dem, was ich gerade tue. Wenn ich z.B. gehe, dann bin ich auch im Gedanken beim Gehen und nicht bereits am Ziel. Ein Kind ist geistig noch mehr oder weniger gänzlich bei dem was es gerade tut. Mit dem Älterwerden entfernt sich der Mensch immer mehr von dieser Einheit zwischen Tun und Denken. Über die Spiritualität kann er sich dieser Übereinstimmung wieder annähern.

Einige Teilnehmer richteten unverholene Kritik an jegliches Bemühen Spiritualität zu leben und auch an die Religionen. Sie bezeichneten die spirituellen Tendenzen unserer Zeit als eine Modeerscheinung, vielfach mit einem kommerziellen Hintergrund bis hin zu richtigen Ausbeutergeschichten. Es wurde weiters ganz offen die Frage in den Raum geworfen, ob es Spiritualität überhaupt gibt oder ob sie nur eine Erfindung, eine Illusion des Menschen ist.

Auch die Religionen sind möglicherweise aus gewissen Bedürfnissen und Unzulänglichkeiten des Menschen entstanden. Viele ungeklärte Dinge, Erscheinungen und Abläufe auf dieser Welt, die Frage nach der Zukunft, wie die Welt morgen ausschauen wird, was auf dem Tod des Menschen folgt, werden wohl den Menschen zu religiösen Vorstellungen über einen Gott, eine überirdische Kraft und einem Jenseits geführt haben. Nun gehen diese Vorstellungen in den einzelnen Religionen relativ weit auseinander. Da die Anhänger einer Religion meistens von ihrem Glauben sehr stark überzeugt sind, haben leider auch diese religiös bedingten Differenzen zwischen Völkern in der Geschichte immer wieder zur Verschärfung von Konflikten geführt. Kein Ruhmesblatt für die Religionen, die eigentlich das gegenteilige Ziel vor Augen haben, nämlich Liebe, Friede und Vergebung (wie dies jedenfalls beim Christentum der Fall ist).

Eine weitere Kritik an der Religion und Spiritualität betraf das Hinnehmen des Gegebenen. Solange es dabei um das Verkraften von unausweichlichen Schicksalsschlägen geht und die Spiritualität eine Hilfe dafür oder generell für die Lebensbewältigung bieten kann, erscheint sie wohl äußerst nützlich. Wenn es sich aber um Situationen politischer Unterdrückung und großer sozialer Ungleichgewichte handelt, dann wird dieser Ansatz problematisch. Marx wurde dabei in Erinnerung gerufen, der Religion schon einmal als Opium fürs Volk bezeichnet hatte.

Aber auch im alltäglichen Leben muss immer wieder die Erfahrung gemacht werden, dass gerade jene Menschen, die nach gewissen spirituellen Vorstellungen und einer bestimmten Wertescala leben, draufzahlen und den Kürzeren ziehen.

Die spirituelle Fraktion in der Diskussionsrunde betonte im Hinblick auf diese Kritiken vor allem die persönliche Dimension der Spiritualität.

Es handelt sich dabei um eine persönliche Erfahrung, die man eigentlich nicht teilen kann. Im Gegenzug steht bei der Religion die Gemeinschaft im Vordergrund (Religiösität als ozeanisches Gefühl). Sich selbst erfahren ist ein ganz wichtiger Aspekt der Spiritualität. In diesem Sinne kann z.B. auch der sexuelle Akt als eine spirituelle Erfahrung aufgefasst werden.

Weiters geht es bei Spiritualität um ein gewisses Urvertrauen, das Vertrauen, dass letztlich alles gut ist und um das Vertrauen in sich selbst. Das darf aber nicht eine Vertröstung auf das Jenseits bedeuten, denn sonst kann es wirklich in Richtung Opium fürs Volk gehen und wir sind wieder bei Marx und seinen Bedenken gegenüber Religion und Spritualität.

Für einen spirituellen Menschen jedenfalls stellt sich nicht die Frage, ob es sich bei Spiritualität um Illusionen handelt oder ob alles nur eine Lüge ist. Spiritualität ist etwas ganz Großes, das man nicht in Worten fassen kann, das man nicht definieren kann; dadurch würden spirituelle Erfahrungen nur klein gemacht. Es ist schwer über Spiritualität zu reden, vieles spielt sich auf der Gefühlsebene ab, in der Begegnung mit der Natur und den Mitmenschen; was dabei gespürt wird, ist schwer zu beschreiben.

Im Mittelpunkt steht eigentlich die Frage nach dem Sinn des Lebens, bzw. die Suche nach dem Sinn des Seins. Es ist ein Urbedürfnis des Menschen, danach zu suchen. Es geht darum, die geistige Dimension erfahrbar und erlebbar zu machen. Wer allein im Realen verhaftet bleibt, wird sich schwer tun, in dieser Richtung weiter zu kommen.

Auch noch beim späteren geselligen Beisammensein, weit ab vom eigentlichen Diskussionsabend, hat uns das Thema noch einmal gepackt, trotzt fortgeschrittener Stunde und trotz gewissem „geistigen“ Einfluss. Karl, der zu uns gestoßen ist, hat eine Klassifizierung der Menschen in Wissende, Glaubende und Suchende gewagt. Es gibt solche Leute, die vorwiegend auf das Wissen vertrauen und danach ihr Leben ausrichten; es gibt andere, die nach gewissen Glaubensgrundsätzen leben und noch andere, die vor allem die Suche auszeichnet. Die spirituellen Menschen hat er vor allem der dritten Kategorie zugeordnet. Danach ging die Diskussion los, wer sich wo eingeordnet sehen möchte. Aber mit einer Kategorie gaben sich nur die wenigsten zufrieden und es kam so manche „Promenadenmischung“ heraus.