Wie steht es um das Zusammenleben der Sprachgruppen in Südtirol? Wie weit besteht in der Südtiroler Bevölkerung der Wunsch, das Bedürfnis, dass sich die einzelnen Sprachgruppen möglichst nahe kommen? Welche ist eigentlich die wahre Minderheit (und somit die am meisten schutzbedürftige) in Südtirol: die deutsche Volksgruppe, die italienische Volksgruppe, die ladinische Volksgruppe, die Gemischtsprachigen, die Ausländer? Wieviel Miteinander verträgt überhaupt eine Situation, wie wir sie in Südtirol haben?
Über all diese Fragen und so manche mehr wurde sehr lebendig diskutiert und ein wesentlicher Beitrag zur Lebhaftigkeit des Diskussionsabends ist mit Sicherheit von Gabriele di Luca gekommen, der uns mit verschiedenen Aussagen und Positionen, die wir uns von seiner Seite nicht erwartet hätten, auf Trab gehalten hat.
Seine Nüchternheit und Desillusioniertheit, mit der er an diese Thematik herangegangen ist, hat so manchen aus den Reihen der Diskussionsrunde sehr überrascht. Obwohl er sich von Haus aus in einer interethnischen Realität (seine Frau ist deutscher Muttersprache) befindet, betont er, nicht um die Annahme umhin zu kommen, dass die interethnische Frage in Südtirol eigentlich keinen großen Stellenwert hat. Im Gegenteil, wer heute einer interethnische Südtiroler Realität das Wort redet, wird nur mehr belächelt. Auch Alexander Langer, der sicherlich ein fähiger Politiker war, musste schließlich einsehen, dass das Anliegen einer bestmöglichen Annäherung der Sprachgruppen in Südtirol eigentlich ein politisches Randdasein darstellt. Um also politisch nicht auf der Stelle zu treten, nahm er in seiner politischen Bewegung zunehmend neue Inhalte auf, was in der damaligen Zeit vor allem Umweltthemen waren.
Gabriele di Luca glaubt also nicht daran, dass in der Südtiroler Bevölkerung (weder von deutscher noch von italienischer Seite) ein großes Interesse für ein möglichst enges Miteinander besteht. Man wird sich wohl damit begnügen müssen, wenn es ein möglichst friedliches Nebeneinander gibt, denn es zeichnet sich schon immer mehr ein Ohneeinander ab, das natürlich nicht unerhebliche Gefahren in sich birgt.
Grundsätzlich aber präsentiert sich für Gabriele di Luca der so genannte ethnische Konflikt mittlerweile nur mehr als ein symbolischer Konflikt („conflitto rappresentato“, wie er ihn bezeichnet). Die wirtschaftlichen und die finanziellen Mittel sind zwischen den Volksgruppen gemäß deren Stärke aufgeteilt. Wenn es dennoch ab und zu zu gewissen Scharmützeln (z.B. Toponomastik) kommt, so hat das nicht mehr mit einem wahren Konflikt zu tun, es geht dabei nicht um existenzielle und lebenswichtige Dinge, auch wenn die Problematik manchmal so hingestellt wird. Sollte es den Deutschen aber genauso auch den Italienern unter seinesgleichen besser gehen und dadurch Konflikte vermieden werden, so kann dieses System des Nebeneinanders bei weitem nicht als das Schlechteste angesehen werden.
Gabriele glaubt auch nicht mehr daran, dass eine zweisprachige Schule in absehbarer Zeit Realität werden kann und bezweifelt, ob diese überhaupt ein erstrebenswertes Ziel sein soll. Das zweisprachige Schulmodell wird zum einen nur von einer Minderheit eingefordert und zweitens stellt sich für ihn auch die Frage, ob eine solche Schule überhaupt sinnvoll sei. Gerade in dieser Frage hatte sich eine rege Diskussion entfacht, da doch einige der Diskussionsteilnehmer ein solches Schulmodell befürworteten. Der ewige Vorwurf gegenüber einer zweisprachigen Schule, dass sich die Menschen folglich weder im einen noch im anderen Kulturkreis zurechtfinden können, wurde von vielen abgelehnt. Weiters wurde auf verschiedene positive Auswirkungen für das Zusammenleben in Südtirol verwiesen. Im Kindes- und Jugendalter, in den verschiedenen Schulstufen werden viele Freund- und Bekanntschaften aufgebaut, wodurch sich die Volksgruppen annähern könnten und die Grenzen zwischen den beiden Parallelwelten, so wie sie heute bestehen, könnten zumindest teilweise abgebaut werden. Damit auch die Gefahr, dass sich bei der erstbesten Gelegenheit die „säuberlich“ getrennten Volksgruppen wieder bekämpfen müssten. Heute ist in Südtirol ein erheblicher Wohlstand garantiert, sollten aber wieder einmal die Mittel knapper und der Verteilungskampf rauer werden, dann werden sich möglicherweise genau entlang dieser Trennlinien harte Fronten bilden, mit all den damit verbundenen Folgen.
Als Beispiel dafür, dass auch in Südtirol eine zweisprachige Schule funktionieren kann wurde das Modell der ladinischen Schule (in der die eine Hälfte der Fächer in Deutsch und die andere Hälfte in Italienisch unterrichtet wird) angeführt. Gabriele sieht allerdings bei vielen Deutschen und z.T. auch bei den Italienern nicht die Bereitschaft für eine derartige Schule vorhanden. Bei den Ladinern hingegen verhält es sich anders, sie wissen nur zu gut, dass eine ausschließlich ladinische Schule für sie erhebliche Nachteile birgt, denn das Beherrschen der deutschen und italienischen Sprache ist für sie umso wichtiger, da sie außerhalb der ladinischen Tälern auf diese voll und ganz angewiesen sind.
Es wäre jedenfalls durchaus interessant, sich der Frage zu stellen, warum unter den Sprachgruppen eigentlich so wenig Interesse besteht, mehr aufeinander zuzugehen. Ich glaube, die Ursachen sind äußerst vielfältig:
Da gibt es sicher einmal historische Gründe. Südtirol wurde vor mehr als neunzig Jahren einem Staatsgebilde einverleibt, dem sich die damalige Bevölkerung nicht zugehörig fühlte. Sie hat in den ersten Jahrzehnten äußerst schlechte Erfahrungen damit gemacht. Sie war mit einer Staatsmacht konfrontiert, die ihr ihre Sprache und Kultur streitig machen wollte. Wenn sich also die Südtiroler gegen das faschistische Regime zur Wehr setzten, so kann das wohl nur verständlich sein. (Als ein Kampf gegen den Faschismus im eigentlichen Sinne kann dies aber nicht verstanden werden; gleichzeitig sympathisierte nämlich ein überaus großer Teil der Südtiroler Bevölkerung mit dem nationalsozialistischen Deutschland, das einen noch radikaleren Faschismus an den Tag legte.) Dieses repressive Verhalten von Seiten des italienischen Staates gegenüber den Südtirolern hat jedenfalls tiefe Gräbern hinterlassen und es scheint, dass es nach wie vor eine diffuse Angst gibt, irgendeinmal in diesem Staat vielleicht wieder ähnlichen Gefahren ausgesetzt zu sein.
Nun sollte man natürlich nicht ewig auf Begebenheiten beharren, die mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Es gilt den Blick in die Zukunft zu richten und ausgehend von einer heutigen, doch völlig veränderten politischen Lage ganz andere Schlüsse für das Zusammenleben zwischen Deutschen und Italienern zu ziehen. Trotzdem kann auch unabhängig der oben beschriebenen geschichtlichen Fakten im Falle einer größeren Annäherung der Sprachgruppen eine bestimmte Angst vor einem Identitätsverlust festgestellt werden und zwar auf beiden Seiten. Ich bin allerdings der Meinung, dass gerade, was diese Ängste anbelangt, sehr viel politischer Missbrauch betrieben wird.
Weiters kann beobachtet werden, dass mit dem Machtverlust einer Volksgruppe immer auch eine gewisse Einigelung einhergeht. Dies war der Fall bei der deutschen Bevölkerung in der Zeit des Faschismus. In den letzten Jahrzehnten hingegen haben die Italiener immer mehr Macht abgeben müssen und nun ist bei Ihnen ein Rückzug spürbar und eine Abnahme der Bereitschaft, mit der anderen Sprachgruppe in Kontakt zu treten.
Auch eine gewisse Faulheit mag im Spiel sein. Wie weniger man aufeinander angewiesen ist, umso weniger kümmert man sich um die andere Sprachgruppe. Die Zweitsprache zu erlernen bedeutet nun Mal eine gewisse Mühe. Auch die Auseinandersetzung mit der anderen Sprachgruppe, den Kontakt mit ihr zu suchen und zu pflegen, ist mit Aufwand verbunden. Die Bereitschaft dazu scheint wohl auch aus diesem Grund immer weiter zurückzugehen.
Schließlich muss auf das Verhalten verschiedener politischer Parteien (vor allem im deutschen Parteienspektrum) eingegangen werden, die an klaren Grenzen zwischen den Sprachgruppen interessiert sind. Wie weit diese Strategien reines politisches Kalkül sind, ist schwer abzuschätzen. Jedenfalls hängt die politische Bedeutung gewisser Parteien wirklich zu einem guten Teil davon ab, dass die Volksgruppen möglichst klar getrennt und erkennbar sind, weshalb deren Interesse an einer besseren Annäherung der Sprachgruppen eher gering ist. Zum Teil wird mit den Ängsten und Befürchtungen (Angst vor Identitätsverlust, Angst vor Benachteiligungen bis hin zu Unterdrückung durch ein übermächtiges Staatsvolk) Politik gemacht (und zwar umso mehr, wie weiter die Partei rechts steht), wodurch ein besseres Zueinanderfinden der Sprachgruppen sicherlich nicht gefördert wird.
Auf einige Dinge sei zum Schluss noch verwiesen. Wenn heute die deutsche Sprachgruppe gestärkt dasteht, so sollte diese Position nicht ausgenutzt und nicht all zu sehr aus der Position des Stärkeren agiert werden; Präpotenz bewährt sich in der Regel nicht.
Ständig auf der Hut gilt es zu sein bezüglich der unverwüstlichen Vorurteile, die nach wie vor gegenüber der jeweilig anderen Volksgruppe ins Spiel gebracht werden. Wenn Italiener grundsätzlich als chaotisch und korrupt und umgekehrt Deutsche als grob und bildungsarm angesehen werden, dann ist dies ganz sicher nicht förderlich für ein unbefangenes Begegnen der Sprachgruppen und für ein besseres Zusammenleben.
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