Eines kam gleich am Anfang schon zur Sprache und zwar was es mit dem Genussbotschafter auf sich hat. Andreas Gottlieb hat nämlich erst vor kurzer Zeit einen Kurs absolviert, bei dem die Teilnehmer zu Genussbotschafter für Südtirol ausgebildet wurden. Die 18 Leute, die den Kurs besucht hatten, lernten Verschiedenes über die typischen Südtiroler Produkte, wie Speck und Wein, auch Benimm-Regeln waren dabei.
Andreas Gottlieb skizzierte daraufhin seinen Lebenslauf: 1941 in Dresden kam er auf die Welt inmitten der Kriegswirren. Seine Familie floh nach der Bombennacht in Dresden nach Weimar. Dort hatte sie sich in der Nachkriegszeit eingelebt; der Vater wirkte auch als Bürgermeister der Stadt. Als Liberaler wurde er aber in der damaligen DDR nicht lange geduldet, er wurde angehalten, sich nach Berlin abzusetzen. Mit einem so genannten Rosinenbomber flogen sie schließlich nach Wiesbaden aus.
Andreas Gottlieb selbst hat in München studiert, arbeitete aber dann vor allem in Berlin. Als Vorsitzender der Architektenvereinigung Deutschlands ist er viel in der Welt herumgekommen. Südtirol hatte er bereits in seiner Kind- und Jugendzeit durch mehrere Ferienaufenthalte kennen und schätzen gelernt. Nach wie vor ist für ihn Südtirol einer der schönsten Flecke der Welt. Weil es ihm hier am besten gefällt, hat er sich nun schon seit 10 Jahren definitiv bei uns niedergelassen. Seine zweite Frau lernte er vor sieben Jahren bei einer Wanderung in Südtirol mit Reinhold Messner kennen; ein weiteres wichtiges Ereignis, das ihn an unser Land bindet.
In seiner journalistischen und publizistischen Tätigkeit, aber auch bei Vorträgen und Diskussionen nimmt Andreas Gottlieb sich oftmals kein Blatt vor dem Mund, wenn es darum geht, auch mal etwas Kritisches über Land und Leute zu schreiben und zu sagen. Dann bekommt er schon mal Meldungen um die Ohren, wie, was will dieser Deutsche hier bei uns usw. Er hat sich – laut eigenen Aussagen – damit nicht nur Freunde geschaffen, sogar anonyme Drohbriefe hat er erhalten. Andererseits ermuntern ihn aber auch viele Leute – darunter auch Architekten – in seinem Kritischsein. So mancher einheimischer Architekt würde es nämlich selbst nie wagen, ähnliche Kritiken anzubringen, obwohl er sie insgeheim teilt.
Bereits neun Bücher hat Andreas Gottlieb Hempel über Südtirol geschrieben. Es handelt sich dabei um Reiseführer, Weinführer (2008 hat er ein Sommelierdiplom in Südtirol erworben) und Architekturbücher. Die letzte Veröffentlichung trägt den Titel „Bauernhöfe in Südtirol“. In seinen Büchern will er Südtirol nicht nur von vorne zeigen, wie das Land sich vor allem den Touristen präsentiert, sondern auch das Südtirol von hinten. Die Schattenseiten dieses Landes sollen nicht hinterm Berg gehalten werden. Südtirol hat ohne Zweifel gerade in der Ära Durnwalder (den er als einen Übervater mit ausgesprochener wirtschaftlicher Schlagseite sieht) einen großen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Damit einhergehen aber auch verschiedene andere Phänomene, die sich weniger positiv für das Land auswirken: zunehmende Zersiedelung der Landschaft, schleichender Verlust charakteristischer bäuerlicher Architektur, aber auch das Zunehmen der Freunderlwirtschaft ist unübersehbar. Andreas Gottlieb stellt weiters eine Abnahme der Freundlichkeit fest. Den jungen Südtiroler nimmt er mitunter spürbar arroganter wahr, als dies bei der früheren Generation der Fall war. Die Autofahrer auf den Landstraßen nehmen oft recht wenig Rücksicht auf Wanderer und Spaziergänger.
Andreas Gottlieb versucht in seinen Büchern auch den kulturellen Aspekt stärker zu berücksichtigen, als dies in den meisten anderen Reiseführern geschieht.
Zur geplanten Seilbahn in Brixen hat Hempel seine eigene Position. Diese Infrastruktur soll dazu dienen, den Tourismus in Brixen weiter zu fördern. Er glaubt aber, dass er bereits ausreichend ausgebaut ist. Das Skigebiet auf der Plose findet er gar nicht so erhaltenswert, „dieser ganze Krempel kann auch verschwinden“. Grundsätzlich sollte man in Südtirol versuchen, etwas innehalten; vielleicht gibt es auch bescheidenere Wege.
In der Landwirtschaft gibt es ebenfalls sowohl positive als auch weniger positive Entwicklungen. Im Weinsektor ist es gelungen, einen sehr erfolgreichen Weg einzuschlagen, indem immer mehr auf Qualität anstatt auf Quantität gesetzt wurde. Auch in der Obstwirtschaft sollten ähnliche Akzente gesetzt werden. Insgesamt wird allerdings viel zu wenig auf Diversifizierung gesetzt; in weiten Bereichen ist man all zu sehr von der Milchwirtschaft abhängig. Monokulturen und Intensivierung haben nun mal nicht nur positive Auswirkungen, vor allem in der Landschaft schlägt sich das nieder.
Was sich ebenfalls auf das Landschaftsbild äußerst negativ auswirkt ist das zunehmende Verschwinden alter charakteristischer Höfearchitektur. Hier muss möglichst schnell ein Umdenken stattfinden. Auch die öffentliche Hand müsste aktiv werden, indem z.B. die Sanierung der Höfe stärker gefördert wird, damit diese wieder attraktiv wird gegenüber einem Neubau. Auch bezüglich Ferienwohnungen gilt es einen Riegel vorzuschieben, indem z.B. der Anteil der Ferienwohnungen 3 % nicht überschreiten darf, wie dies in anderen Ländern bereits so festgelegt worden ist.
Wichtiges und interessantes Merkmal Südtirols ist weiters das Zusammentreffen zweier Kulturen, das Überschneiden des deutschen und italienischen Kulturkreises. Leider gelingt es den Südtirolern nicht ganz dieses Zusammenleben möglichst unbeschwert zu halten und es zeichnen sich nicht unbedingt Verbesserungen ab. Die Kenntnisse der Zweitsprache nehmen ab und zwar vor allem bei der deutschen Bevölkerung. Andererseits werden nach wie vor den Italienern zu wenige Möglichkeiten geboten, die deutsche Sprache zu erlernen. Für Hempel würde sich auch für die deutsche und italienische Sprachgruppe ein ähnliches Modell – wie jenes der ladinischen Schule – bestens eignen.
Südtirol sollte sich eigentlich seiner eigenen Besonderheiten immer mehr bewusst werden und diese auch verstärkt ausleben, ganz im Sinne eines Europa der Regionen, in dem die Bedeutung der Nationalitäten abnehmen sollte. Auch die Zivilcourage lässt bei den Südtirolern etwas zu wünschen übrig.
Leider werden derartige Kritiken in Südtirol häufig all zu sehr persönlich aufgefasst (dabei ist es nicht seine Absicht, sich als Oberlehrer aufzuspielen, sondern er möchte lediglich als Beobachter fungieren). Durch diese Haltung vergeben sich die Südtiroler die Einiges. Ein bisschen mehr Offenheit und Selbstkritik würden ohne Zweifel dazu beitragen, Filz und Vetternwirtschaft besser in die Schranken zu verweisen. Aber diese Verschlossenheit gehört wohl ein bisschen zur Südtiroler Mentalität: der Südtiroler, der ganz gerne in seiner eigenen Welt lebt und sich manchmal schwer tut, nach Außen zu schauen. Gleichzeitig weist Hempel aber auch darauf hin, dass in Südtirol dennoch viele Einflüsse von Außen Eingang gefunden haben. Dass dieses Land schon seit geraumer Zeit am Schnittpunkt verschiedener Kulturen stand, hat auf jedem Fall seine Spuren hinterlassen.
Schließlich entwickelte sich noch eine Diskussion über die Optionszeit und die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Südtirol. Man kann sagen, dass diese Aufarbeitung nicht oder nur kaum stattgefunden hat. In der Nachkriegszeit sind sehr viele Optanten nach Südtirol zurückgekehrt; die Dableiber waren eine ausgesprochene Minderheit. Entsprechend wenig Bedeutung wurde deshalb einer Aufarbeitung des Nationalsozialismus beigemessen. Noch dazu galt das Primat, nach vorne zu schauen und sich nicht in der Vergangenheit zu verlieren. Diese mangelnde Geschichtsverarbeitung könnte sich auf die gesellschaftliche Entwicklung leicht zum Negativen auswirken.
Um die „Dableiber“ vor Übergriffen der Optanten zu schützen, wurde noch 1939 der Südtiroler Andreas-Hofer-Bund (AHB) gegründet. Er war die wichtigste Deutschsüdtiroler Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus , aus der 1945 die Südtiroler Volkspartei (SVP) hervorging.