Schon in der Einführungsrunde haben die DiskussionsteilnehmerInnen ihrem Frust und so mancher Entrüstung über die derzeitige politische Situation in Italien, aber auch in unserem Land, Ausdruck verliehen. Es scheint, dass auch bei uns das Wutbürgertum Einzug gehalten hat.
Der Politik wird Visionslosigkeit vorgeworfen, den Politikern geht es oft nur um die eigene Macht, um Posten, sie setzen sich all zu oft über das Gemeinwohl der Bevölkerung hinweg und verfolgen ihre eigenen Interessen mit einer Selbstverständlichkeit, die Ihresgleichen sucht, Arroganz und Präpotenz grassieren und die Demokratie wird immer mehr mit Füßen getreten.
In so mancher Stellungnahme werden Lichtblicke in der politischen Landschaft noch am ehesten beim Movimento 5 Stelle ausgemacht. Den Grillini ist es in erster Linie zu verdanken, dass das heutige Parlament das jüngste aller Zeiten ist; es gab auch noch nie so viele Frauen in den Kammern. Allerdings nehmen die Zweifel darüber zu, ob die Grillini ihre hochgesteckten Ziele wirklich erreichen werden. Wenn sie weiterhin jegliche Zusammenarbeit mit den anderen Parteien verweigern, wird dies wohl ein schwieriges Unterfangen werden. Z.T. erscheinen ihre Forderungen doch etwas überzogen, wenn sie das Parteien- und auch das Mediensystem einfach abschaffen, oder wenn sie alle anderen Politiker einfach nach Hause schicken wollen. Ob damit die großen Probleme Italiens gelöst werden können, wurde zumindest mal in Frage gestellt.
In Südtirol scheint die Vorherrschaft der SVP noch lange nicht gebrochen zu sein. Die Partei erfreut sich immer noch großer Zustimmung trotz verschiedener Skandale, allen voran die Affären um die Sel. Interessanterweise hält auch der Zuspruch von Seiten der italienischen Bevölkerung an und zwar zunehmend auch von italienischen Jugendlichen. Bei den deutschsprachigen Wählern scheint nach wie vor die Taktik der Angst, von den Italienern überrollt zu werden, (die Strategie des kalten Windes aus Rom) und die daraus resultierende Notwendigkeit des Zusammenhalts der deutschsprachigen Bevölkerung aufzugehen.
Hans Heiss hat zuallererst mal eine relativ düstere Situationsanalyse für Italien erstellt. Er hat verschiedene Risikofelder aufgezählt, mit denen das Land sicherlich nicht erst heute zu kämpfen hat, die sich aber als zusehends bedrohlicher erweisen.
- Der Steuerdruck scheint so langsam sämtliche Grenzen zu überschreiten; viele wirtschaftliche Aktivitäten und Initiativen brechen unter diesem Druck zusammen.
- Italien ist auch eines jener Länder, in denen die Justiz mehr schlecht als recht funktioniert, worunter die Rechtsstaatlichkeit erheblich leidet (die durchschnittliche Prozessdauer ist viel zu lang und die Möglichkeit der Verjährung bringt viele Ungerechtigkeiten mit sich und leistet der Willkür Vorschub). Eine schlecht funktionierende Justiz stellt ein großes Handicap für die Wirtschaft dar und schreckt vor allem auch ausländische Unternehmen ab, in Italien aktiv zu werden.
- Die überbordende Bürokratie verursacht ebenfalls immense Spesen für die Wirtschaft und nicht hinnehmbare Zeitverluste bei der Umsetzung von Projekten und wirtschaftlichen Initiativen.
- Im Bereich der Infrastrukturen (Verkehrseinrichtungen usw.) steht Italien im Vergleich zu so manch anderem Land eindeutig im Verzug.
- Das Gesundheitswesen rutscht immer stärker in die Krise, wobei sich das Nord-Süd-Gefälle weiter zuspitzt.
- Die Steuerhinterziehung in Italien befindet sich weit überm europäischen Durchschnitt. Die Schwarzarbeit blüht. Die Schattenwirtschaft erreicht ein immer größeres Ausmaß. Der Teufelskreislauf, in dem immer mehr Steuerhinterziehung einen höheren Steuerdruck erzeugt und dieser wiederum zu mehr Steuerhinterziehung führt, hält ununterbrochen an.
- Korruption ist eine nächste große Geisel des Landes. Trotz Tangentopoli, Mani pulite, der Aufklärung zahlreicher Korruptionsfälle, die z.T. in die höchsten Instanzen von Politik und Wirtschaft hineinreichen, ist keine Abnahme der Korruption in Italien feststellbar, im Gegenteil, sie nimmt nach wie vor zu.
- Die Wirtschaft ist bereits seit einigen Jahren in eine tiefe Krise gestürzt. Es gibt nicht nur Stillstand. Es werden auch negative Zahlen geschrieben, vor allem in der Industrie, aber auch in anderen Sektoren. Signale für eine Kehrtwende in der Wirtschaft zeichnen sich z.Z. keine ab. Die tiefe Rezession in der Wirtschaft schlägt sich mittlerweile auch im sozialen Bereich nieder: einkommensschwache Schichten kommen immer stärker in Bedrängnis und verarmen zusehends.
- Parallel zur Wirtschaftskrise gibt es eine große politische Krise. Nachdem Berlusconi trotz ausreichender Mehrheit seines Wahlbündnisses in beiden Kammern abdanken musste, kam es zu einer technischen Regierung unter Ministerpräsident Monti, die natürlich ein klares Ablaufdatum hatte, aber auch dieses wurde noch unterschritten, da sie vom Haus der Rechten nicht mehr unterstützt wurde. Darauf kam es zu Neuwahlen – etwas vor dem eigentlichen Termin. Diese haben aber leider eine verhängnisvolle Pattsituation zwischen den beiden politischen Lagern von Mittelinks uns Mitterechts mit sich gebracht, wodurch das Land erst recht in die Unregierbarkeit zu schlittern droht. Auch der M5S, der bei den Wahlen überaus gut abgeschnitten hatte, scheint wenig dazu zu tun, damit dieser politische Stillstand sich endlich auflöst.
- Nicht vergessen werden darf schließlich die organisierte Kriminalität. Camorra, N’drangheta und Cosa Nostra legen nicht nur den Süden Italiens fast lahm, sie haben mittlerweile ihre Tentakeln weit in den Norden des Landes hinein ausgestreckt.
Die Situation in Italien kann und darf aber nicht nur innenpolitisch betrachtet werden. Rutscht Italien immer weiter in die Krise, wird dies Auswirkungen auf Gesamteuropa haben. Die italienische Wirtschaft ist immerhin die drittgrößte im Euroraum.
Daraufhin hat sich Heiss eingehend und unter reger Teilnahme aller Anwesenden mit der schwierigen politischen Situation in Italien, die sich nach den Parlamentswahlen ergeben hat, beschäftigt.
Das Funktionieren eines Landes hängt für Heiss nicht einzig und allein von der Politik ab, dennoch kommt ihr eine äußerst wichtige Lösungskompetenz zu. Das bipolare System, von dem die italienische Politlandschaft von der Nachkriegszeit bis heute herauf geprägt war (zuerst von der DC einerseits und den Kommunisten andererseits und später dann vom Mitterechts- und Mittelinksblock) scheint durch die letzten Wahlen eine nicht unbedeutende Abwandlung erfahren zu haben. Ein dritter Pol ist entstanden, der ca. ein Viertel der gesamten Stimmen auf sich vereint. Dieser fühlt sich zu keinen der anderen beiden Pole hingezogen und möchte weder mit Mittelinks noch mit Mitterechts eine Regierungskoalition eingehen. Andererseits will auch Mittelinks sich nicht mit Mitterechts einlassen; vielleicht gibt es auch gute Gründe dafür, denn Berlusconi ist es noch immer gelungen seine Koalitionspartner auszuspielen und sie nach seiner Nase tanzen zu lassen. Für Berlusconi geht es aber noch um sehr viel mehr: es geht für ich nicht nur um sein politisches, sondern auch um sein persönliches Überleben, sollte er nicht mehr im Regierungsgeschäft mitmischen können. Eine große Koalition wäre wahrscheinlich viel leichter möglich, wenn Berlusconi nicht mehr im Spiel wäre. Der PDL – die größte und wichtigste Partei im Rechtsblock – ist aber total abhängig von diesem Mann und seinem Checkbuch. Er steckt immer wieder große Geldsumme in diese Partei, z.T. werden Leute regelrecht gekauft. Die Partei wird ihn deshalb wohl noch eine ganze Weile nicht loswerden.
Der dritte Pol – der M5S – scheint sich von den Bemühungen um eine Regierungsbildung herauszuhalten, die Grillini erklären sich jedenfalls auf keinen Fall bereit, mit Mittelinks oder mit Mitterechts eine Koalition einzugehen noch sich auf irgendeine andere Form der Regierungszusammenarbeit einzulassen. Schließlich wollen sie das derzeitige politische System komplett abschaffen. Dabei müsste eigentlich gerade diese Partei einen Hoffnungsschimmer für das politische Italien darstellen. Es sind sehr viele junge, engagierte Leute mit überdurchschnittlichem Bildungsstandard dabei, aber leider können sie bedingt durch diese Blockadehaltung eigentlich kaum etwas bewegen. Vielleicht hat das Verhalten des M5S auch damit zu tun, dass er eine heterogene Wählerschaft hat, dass er von linken und rechten Wählern gewählt wird.
Ein anderer Weg wäre, Neuwahlen auszurufen. Dies will allerdings niemand so richtig, mit Ausnahme des PDL, der sich Stimmenzuwächse verhofft. Von Neuwahlen kann man sich möglicherweise auch nicht viel erwarten oder verhoffen, da das Ergebnis mit großer Wahrscheinlichkeit wieder eine Pattsituation wäre, mit dem Unterschied, dass den hauchdünnen Vorsprung, den heute Mittelinks hat, dann vielleicht Mitterechts aufweisen könnte. Heiss hatte bereits Ende März über Bersani gesagt, dass dieser seinen politischen Zenit überschritten hat und dass Renzi die aufsteigende Figur im PD ist. Renzi – als Mann der Wirtschaft – könnte sich vielleicht auch zu einem Gegenpol Berlusconis mausern.
Einen vorläufigen Ausweg würde Heiss darin sehen, eine Übergangskoalition (zwischen welchen politischen Kräften auch immer, aber jedenfalls auf einer möglichst breiten Ebene) zu bilden, die zumindest ein Jahr lang im Amt bleibt, um die wichtigsten und notwendigsten Reformen anzugehen (neues Wahlgesetz, neues Kammersystem ohne Senat, Bereinigung des Interessenkonflikts, neue Regelung der Parteienfinanzierung usw.).
Andere Lösungen, wie eine Minderheiten- oder eine Technikerregierung, sind sehr riskant und würden voraussichtlich nur von kurzer Dauer sein. Vor allem kann von einer derartigen Regierung kaum erwartet werden, dass sie imstande sei, Italien aus der Krise zu führen und grundlegende Problemlösungen zu finden, wofür es einen größtmöglichen Konsens braucht.
Bleibt nur zu hoffen, dass die Politik in Italien, die sich all zu sehr mit sich selbst beschäftigt, irgendwann sich doch eines Besseren besinnt; dass sie irgendwann doch noch wahrnimmt, dass das Land in eine immer dramatischere Situation hineinschlittert, dass sich bereits erste Auflösungserscheinungen abzeichnen und dass es von Problemen, wie eine völlig hilflose Verschuldung oder eine noch nie da gewesene Jugendarbeitslosigkeit, komplett übermannt wird.
Heiss bestätigt, dass Italien sich mittlerweile in seiner schlimmsten Zeit seit 1945 befindet (vielleicht war es damals noch besser, da zumindest eine große Aufbruchstimmung vorhanden war). Die Probleme sind nicht erst in den letzten Jahren entstanden. Der Grundstein für diese Krise wurde schon in den letzten Jahrzehnten gelegt und die Gründe dafür sind sehr tiefgreifend. Es kann nicht alles nur der Politik angelastet werden, die Schuld liegt auch bei der Zivilgesellschaft. Korruption ist in Italien allgegenwärtig, nicht nur in der Politik. All zu vieles – und in allen Bereichen – lässt man einfach verlottern und verludern. Vor allem die Reichen sind sich in keinster Weise ihrer Verantwortung für das Land bewusst, wenn sie ausschließlich ihre eigenen Interessen und ihren Individualismus im Sinn haben.
Die desolate politische Situation in Italien scheint nicht weiter verwunderlich zu sein, wenn man bedenkt, dass Italien das Land mit den wenigsten Zeitungslesern, das Fernsehen (vor allem jenes auf niedrigstem Niveau) hingegen von größter Bedeutung ist und dass sich daraus eine eklatante Verführbarkeit der italienischen Bevölkerung ergibt. Wen wundert es da noch, dass die einflussreichste politische Persönlichkeit in diesem Land ein Mann ist, der vor allem die Qualitäten eines Verkäufers aufweist, dass gerade so ein Mann die meisten Identifikationsmerkmale für die Italiener verkörpert? Wäre es sonst nur irgendwie möglich, dass dieser Politiker, obwohl er in der vergangenen Legislatur trotz ausreichender parlamentarischer Mehrheit politisch komplett gescheitert ist, nach wie vor mit einem großen Konsens in der Bevölkerung rechnen kann? Einige Schuld trifft natürlich auch seine politischen Konkurrenten: Bersani, der vielleicht einen all zu sachlichen und wenig spektakulären Wahlkampf geführt hat, Monti, mit seiner Politik der sozialen Kälte und schließlich Grillo in seiner politischen Radikalität und Kompromisslosigkeit.
Nicht zum Vorteil gereichte Italien die lange Vorherrschaft einer Partei, nämlich der DC. Eine derartige politische Hegemonie über lange Zeit zieht fast gezwungenermaßen gewisse Zerfallserscheinungen nach sich (denken wir nur an das Phänomen der Korruption).
Zum Glück ist dann auch noch etwas Zeit übrig geblieben, um über die Situation in Südtirol zu sprechen.
Für Heiss ist der SVP vor den Parlamentswahlen noch rechtzeitig ein cleveres Krisenmanagement gelungen. So konnte sich die Volkspartei trotz der Skandale und Skandälchen, die die Partei in jüngster Zeit gebeutelt haben, auch bei diesen Wahlen verhältnismäßig gut halten. Dazu beigetragen hat die Abhaltung von Vorwahlen und die damit gelungene Einbindung der Parteibasis, weiters auch die Tatsache, dass von den alten Hasen nur mehr wenige angetreten sind und schließlich dass es gelungen ist, ausgesprochene Systemgegner (Sel-Bekämpfer) in die Wahl einzubinden (Albrecht Plangger). Der Pakt mit dem PD hat sich nicht als Fehler erwiesen; die SVP ist nun wieder besser angekoppelt an das politische Geschehen in Rom. Als Chefideologe scheint sich dabei immer mehr Karl Zeller heraus zu kristallisieren. Auch die alte Masche mit der Notwendigkeit des Zusammenhalts der deutschen Südtiroler, um dem kalten Wind aus Rom besser entgegentreten zu können, hat sich wieder einmal als effizient erwiesen. Das relativ gute Abschneiden der SVP bei diesen Wahlen hat allerdings das Bild der Partei etwas geschönt.
Für die Landtagswahlen im Herbst hat Heiss folgende Prognosen erstellt:
- Die SVP wird wohl doch noch etwas abgestraft werden; er tippt auf einen Stimmenanteil von ca. 42 %, womit sie die absolute Mehrheit verlieren und das Geheule losgehen wird. Kompatscher als Spitzenkandidat muss als ein ausgesprochener Glücksfall für die SVP angesehen werden. Die bestimmenden Köpfe in der SVP, die die Fäden im Hintergrund ziehen, sind vor allem Zeller und Brandstätter, die Ebners hingegen scheinen etwas an Einfluss eingebüßt zu haben. Keine große Bedeutung kommt mittlerweile den Arbeitnehmern in der SVP zu. Dass die SVP durch den Sel-Skandal nicht größeren Schaden bei den Parlamentswahlen genommen hat (auch bei den Landtagswahlen wird damit zu rechnen sein), erklärt sich Heiss zum einen dadurch, dass sie zwei Esel ausgemacht haben, denen sie mittlerweile die gesamte Schuld am Sel-Schlamassel zuschreiben, und zum anderen mit einer pragmatischen Haltung der Bevölkerung, die er folgendermaßen umschreibt: „die Politiker sind zwar Fockn, aber sie lassen uns leben.“
- Die Freiheitlichen werden einen stattlichen Erfolg einfahren, er schätzt sie bei ca. 25 % ein.
- Auch der PD (der Lieblingskoalitionspartner der SVP) wird sich mehr oder weniger halten können und wird somit wiederum in die Landesregierung einziehen.
- Die Grillini werden möglicherweise nicht nur beim italienischen Wahlvolk Stimmen fischen, sondern auch unter den Deutschen. Mit Paul Köllensberger haben sie jedenfalls einen zugkräftigen deutschsprachigen Kandidaten vorzuweisen.
- Relativ kritisch ist Heiss mit der eigenen Partei, den Grünen. Er weist ihnen einen Randstatus zwischen der SVP und den Blauen zu. Sie wirken zwar recht seriös, aber auch etwas langweilig. Nichtsdestotrotz wird es ihnen gelingen gegenüber den letzten Landtagswahlen vor fünf Jahren etwas zuzulegen und schätzt, dass sie sich von 5,8 % auf ca. 7 – 8 % emporarbeiten können; ganz sicher werden sie nicht unter die 5 % Marke rutschen. Sie werden aber weit davon entfernt bleiben, das gesamte Wählerpotential der linkssozialen Kräfte (ca. 12 %) auszuschöpfen.
Bleibt zu hoffen, dass die Behandlung des Patienten fortgesetzt wird. Und das italienische Krankenhaus vom Keller bis zum Dachboden desinfiziert.
Die Situation vor den Wahlen am 24. und 25. Februar zeigt ein ziemlich düsteres Bild der politischen Lage. Auf der einen Seite scheint es nach zwanzig Jahren Berlusconi erstmals so, dass der reaktionäre Block (dessen Mitglieder sich selbst als moderat bezeichnen) dauerhaft zerbrochen bzw. in zumindest zwei Teile gespalten ist.